Gut Altwahlscheid:

Mit Genehmigung der Autorin geben wir hier den ungekürzten Vortrag wieder:

Claudia Chehab, stellv. Archivleiterin des Stadtarchivs Neuss:

Gut Altwahlscheid — Urzelle von Uedesheim, Vortrag am 28. September 2017 auf Gut Altwahlscheid beim damaligen Verschönerungsverein Uedesheim e.V.

Meine Damen und Herren,

ich freue mich, heute hier auf Gut Altwahlscheid zu Ihnen sprechen zu dürfen. 2007 hatten Sie mich ja schon einmal hierhin eingeladen.

Wie haben wir das Gut heute erreicht? Ich wohne in Gnadental und bin mit dem Auto durch Grimlinghausen, über den Reckberg, am römischen Wachturm vorbei auf Gut Altwahlscheid angekommen.

Und wie würden Sie Ihren Weg von Uedesheim zum Gut beschreiben? Ich möchte Ihnen zur Einstimmung einen Text vorlesen, der vor 91 Jahren, am 8. September 1926, in der Beilage zur Neuß-Grevenbroicher Zeitung „Heimatvolk und Heimatflur“ erschienen ist. Es ist eine Liebeserklärung eines Uedesheimer Bürgers, den vielleicht einige von Ihnen vom Namen her noch kennen: Theodor Edelhausen. Ich zitiere einen kleinen Teil davon:

„Auch wir Uedesheimer haben unsere Heimat. In einem nach Südwesten geöffneten Bogen des Vater Rhein liegt unser Dörflein, liebevoll von seinen mächtigen Armen umschlungen. Seine plätschernden Wogen bespülen einen üppig saftigen Wiesenkranz, dem feste Dämme eine Grenze setzen. Aber auch Vater Rhein rufen sie ein Halt entgegen, wenn er in dräuendem Zorne über seine Ufer geht, und er beachtet ihren Ruf. Wenn in Zons und Grimlinghausen schon längst alles unter Wasser, wenn bei Neuss oder sonstwo schon längst die Dämme gerissen, so hat er bei uns noch immer Kehrt gemacht. Wir sind stolz darauf. […]

Auf den wogenden Fluten schwimmt in behäbig steifer Ruhe die Fähre, die uns durch ihre altmodisch rechteckige Form und durch die langsamen Pendelbewegungen von diesseits nach jenseits an die gute alte Zeit erinnert, während sich in dem neumodischen Benzinboot der heutige Zeitgeist des Hungers nach Sensation, Aufregung und Neuerung verkörpert.

Bei einem kurzen Spaziergang über die Dämme rheinaufwärts bewundern wir die langen Schleppzüge, die der dahingleitende Strom auf seinem breiten Rücken trägt. Wir bewundern die sorgsam gepflegten Gärten auf der anderen Seite der Dämme und wünschen dem Landmann den Segen des Himmels für seinen Fleiß.

Da fällt uns mitten in den Wiesen der „Kämp“ auf, eine Erhöhung von zwei bis drei Metern, der „Napoleons- oder Batterienberg“. Er wurde von Napoleon zum Schutze gegen das rechte Rheinufer aufgeworfen. Gräben durchqueren ihn hin und her, die in der jüngsten Besatzungszeit wieder erneuert wurden. Von hier aus wenden wir uns nach Süden durch Weiden- und Pappelpflanzungen. Über einen blumendurchwirkten Teppich kommen wir nach Alt- und Neuwahlscheid. Große Weideflächen mit bestgepflegtem Vieh lassen erkennen, dass hier die Wirtschaft in guten Händen ruht. [. – 1″

Einen ähnlichen Weg haben auch Sie wahrscheinlich genommen, um hier etwas zur Geschichte von Gut Altwahlscheid und Ihrem Stadtteil Uedesheim zu hören. Allerdings hat sich seit 1926 doch einiges geändert und vielleicht haben Sie den Weg hierher auch nicht als ganz so malerisch empfunden.

Theodor Edelhausen (21. Mai 1870 – 13. November 1946) war laut Einwohnermeldekartei Kleinhändler und wohnte auf der Rheinfährstraße 184. In seiner Sterbeurkunde ist sein Beruf mit „Posthalter“ angegeben. Er war seit 5. Mai 1901 verheiratet mit Elisabeth Norff aus Zons. Übrigens habe ich in der Veröffentlichung „Landwirtschaft in Neuss-Uedesheim Gestern und Heute“ von Karl Rüdiger Himmes und Hubert Nix für das Jahr 1927 zwei Landwirte, wahrscheinlich Brüder, nämlich Adam und Jakob Edelhausen, gefunden. Aber Theodor Edelhausen ist nicht der einzige, der begeistert war von seinem Heimatort Uedesheim und dem Altwahlscheider Hof, der darüber schrieb oder forschte.

Constantin Koenen, der Neusser Archäologe, der das römische Lager in Gnadental ausgrub und erforschte, hat 1884 am Altwahlscheider Hof gegraben und darüber in den Bonner Jahrbüchern geschrieben. Er berichtet über seine Ausgrabungen: „In der Niederung, wo 36 Meter über N. N. der Altwahlscheiderhof liegt, befinden sich die Überreste eines Erdhügels mit Graben und Burganlage. Ich habe durch eine Grabung festgestellt, dass diese Burg entweder spätrömisch oder mittelalterlich ist, sicher bis in die karolingische Zeit (751 bis 911) zurückreicht.“ Koenen selbst hat später die Annahme, dass Altwahlscheid spätrömisch sei, revidiert.

Der Kunsthistoriker Paul Clemen spricht in seiner Veröffentlichung „Die Kunstdenkmäler des Kreises Neuss“, erschienen 1895, von einem runden Mottenhügel, der einen Durchmesser hat von 30 bis 33 Meter mit einem 15 Meter breiten, 4 Meter tiefem Graben, mit Mauerresten und in der Mitte einem kellerartigen Raum. Wilhelm Janssen hat in der Veröffentlichung „Burgen, Schlösser und Hofesfesten“ im Jahr 1985 den Altwahlscheider Hof behandelt. Auch er hält ihn für eine Niederungsburg vom Typ der Motte. „Den heute noch bestehenden Hof wird man als die ehemalige Vorburg ansprechen dürfen. Über die Geschichte der Anlage ist wenig bekannt. Es deutet einiges darauf hin, dass die Niederungsburgen vom Motten-Typ seit dem 13. Jahrhundert unmodern wurden. Entweder wurden sie in Stein ausgebaut und bei dieser Gelegenheit auch fortifikatorisch erweitert oder sie gingen unter.“ Eine ähnliche Niederungsburg (Motte) wie Altwahlscheid ist in Neuss noch Gut Hombroich. Auch dort wurde der Burghügel aufgegeben und die Vorburg mit dem Wirtschaftshof blieb bis in die Neuzeit bewirtschaftet. Aber Altwahlscheid gilt auch als Hofesfeste. Als solche bezeichnet man befestigte Hofanlagen, bei denen Elemente des Befestigungswesens aufgenommen und architektonisch gestaltet worden sind. Hier hat man Elemente der Motte übernommen und ausgebaut.

Das Rheinische Amt für Bodendenkmalpflege hat 1980 das Gelände hier untersucht. Dabei wurde entdeckt, dass die Motte Wahlscheid noch eine rechteckige ältere Vorburg von 20×70 Meter hatte, die als Wirtschaftshof an der Nordseite vorgelagert und von Wasser umgeben war. Vermutlich wurde diese im 13. Jahrhundert durch eine neue Vorburg auf dem heutigen Hofgelände abgelöst. Wörtlich sagt der Grabungsbericht: „Nur an wenigen Stellen haben wir eine so ausgeprägte Kontinuität vorliegen wie bei diesem Gutshof.“ Seit dem 26. Januar 2000 ist Gut Altwahlscheid als Denkmal eingetragen.

Was ist nun bekannt über dieses Gehöft?

Aus der mittelalterlichen Zeit kennen wir einige gesicherte Daten zum Gut Altwahlscheid. Erstmals tauchen 1176 die Herren Godefridus und Gerhardus de walscheit in einer Urkunde auf. Im Jahr 1293 wird Wahlscheid als eines der Güter des Neusser Stifts St. Quirin genannt.

Was war nun das Stift St. Quirin?

Das Damenstift St. Quirin geht auf das Benediktinerinnenkloster zum HI. Quirinus zurück, das Ende des 10. Jahrhunderts entstand. Wahrscheinlich wurde es von einer Familie des hohen Adels gegründet. Spätestens Anfang des 11. Jahrhunderts kam das Kloster in den Besitz des Erzbischofs von Köln. An der Wende zum 13. Jahrhundert setzte sich in Neuss, ähnlich wie in anderen alten rheinischen Benediktinerinnenklöstern, etwa St. Maria im Kapitol zu Köln oder in Schwarzrheindorf, die etwas offeneren Lebensformen der Stiftskirchen durch. Diese Entwicklung wurde von der katholischen Kirche zwar mit Missfallen gesehen und lange Zeit bewusst ignoriert, aber sie war von Bestand. St. Quirin in Neuss war also die überwiegende Zeit seiner Geschichte ein Damenstift.

Diese Einrichtung war zunächst eine Art Versorgungsanstalt für unverheiratete junge Frauen aus dem niederen Adel, die hier materiell abgesichert lebten und standesgemäßen Umgang hatten. Als Gegenleistung für die zugesprochenen Pfründe, d. h. für die Alimentierung im Stift, nahmen sie verschiedene gottesdienstliche Aufgaben wahr und kümmerten sich um die zum Schrein des HI. Quirinus pilgernden Gläubigen. Die Lebensform der Stiftsdame gestattete den Besitz von Vermögen, eine eigene Wohnung, jährlichen Urlaub bei der Familie und sogar ohne große Schwierigkeiten „in die Welt zurückzukehren“ und sogar zu heiraten.

Die Äbtissin, die dem Stift vorstand und es nach außen vertrat, kam aus dem hohen Adel, oft war es eine Schwester des Kölner Erzbischofs. Sie wurde mit einfacher Stimmenmehrheit von den Stiftsdamen gewählt und vom Erzbischof bestätigt. Sie verfügte über beträchtliche Einkünfte und besetzte die übrigen Ämter im Stift. Zu diesen zählte die Dechantin als ihre Stellvertreterin, die den Damen Urlaub gewährte und für die Disziplin einschließlich der Strafen verantwortlich war. Außerdem gab es eine Kellnerin, die über den Eingang der Pachterträge, Zinsen und Renten wachte (die damit für das Gut Altwahlscheid zuständig war), eine Kämmerin, die sich um die Kleidung der Damen kümmerte, und eine Küsterin, die das kirchliche Gerät, die liturgischen Gewänder und den Kirchenschmuck verwaltete. Die einfachen Stiftsdamen, die Kanonissen, kamen meist aus dem Landadel des Niederrheins.

Angehörige vornehmer Neusser Bürgerfamilien waren nicht unter ihnen. Im 14. und 15. Jahrhundert lebten 15 Kanonissen im Stift, in den Jahrhunderten bis zur Auflösung 1802 schwankte die Zahl zwischen 7 und 25.

Urkunden, Akten, Rechnungen des Stifts St. Quirin befinden sich im Landesarchiv Nordrhein-Westfalen Abteilung Rheinland, das heute in Duisburg besteht. Der Grund hierfür ist die Säkularisation, also die eben erwähnte Auflösung der Klöster und Stifte während der französischen Fremdherrschaft. Damit fielen der Besitz und auch die Archive an den Staat. Außerdem existiert im Historischen Archiv der Stadt Köln ein Aktenbestand des Stifts. Sie können sich denken, dass nach dem Einsturz des Archivs im Jahr 2009 eine Benutzung schwierig ist. Im Stadtarchiv Neuss sind keine unmittelbaren Unterlagen des Stifts erhalten.

Das Stift St. Quirin war bei weitem das reichste der Neusser Klöster mit einem beachtlichen Grundeigentum. Das Stift besaß einige Höfe, hier in Uedesheim, Macherscheid, Korschenbroich oder Langst. Auch die „Epgesmühle“, die „Äbtissinnenmühle“ bei Grimlinghausen, gehörte dazu. Die Kanonissen besaßen sogar bereits seit 1043 einen Weinberg bei Boppard, ein Geschenk Kaiser Heinrichs III. Spätestens im 14. Jahrhundert waren die Höfe des Stifts alle verpachtet und brachten regelmäßige Geldbeträge oder Naturalien für das Stift ein.

Die Pächter waren dem Stift St. Quirin gegenüber zu Abgaben verpflichtet. In der Regel war das ein Drittel des Ertrags. Die Pachtverträge wurden für 12 Jahre geschlossen, mit dem Kündigungsrecht für beide Seiten, wovon aber kaum Gebrauch gemacht wurde. Quellen zu Gutshöfen in weltlichem oder kirchlichem Besitz finden sich v. a. auf der Seite der Herrschaft. Von den Pächtern, den sogenannten Halfen, ist wenig direkt überliefert.

Während des Truchsessischen Krieges 1585/86 wurde Uedesheim ebenso wie die Stadt Neuss stark zerstört. Dieses Ereignis wird sich ebenfalls auf Gut Altwahlscheid ausgewirkt haben. Auch im 17. Jahrhundert gab es kriegerische Ereignisse, über deren Folgen für Altwahlscheid aber leider nicht viel bekannt ist.

1636 wird ein Simon als Halfmann von Gut Altwahlscheid, also Pächter, im Kopiar des Spendhäuschens erwähnt. Das Neusser Spendhäuschen, zwischen Freithof und Markt gelegen, war eine städtische Einrichtung zur Versorgung von Armen. Simon  wird aber nicht als Empfänger einer Spende genannt sein, sondern als Stifter. Denn neben den städtischen Geldern wurden oftmals Gelder für das Spendhaus per Testament gestiftet. Die schriftlichen Unterlagen des Spendhauses sind im Stadtarchiv überliefert.

Während des 30-jährigen Krieges baten die Pächter des Quirinusstifts — und da war dann der damalige, namentlich nicht bekannte, Pächter von Gut Altwahlscheid auch dabei – wegen Trockenheit und Kriegsschäden darum, die Pacht zu verringern. Ob das Stift dem nachkam, ist nicht bekannt, es ist aber sehr wahrscheinlich.

Aus dem Jahr 1668 belegt eine Quelle, dass der Pächter des Uedesheimer Besitzes zu Kribbenarbeiten am Rhein herangezogen werden sollte. Hierfür erhielt er von der Herrschaft ein Malter Roggen und ein Malter Weizen. Ein Malter konnte in verschiedenen Gegenden andere Maße haben. Hier wird aber das Neusser Maß gegolten haben, bei dem ein Malter ungefähr 155,5 Liter umfasste. Von diesen zwei Maltern Getreide konnte ein Arbeiter im 17. Jahrhundert 14 Tage lang bezahlt werden.

Zu Beginn des 18. Jahrhundert sind als Pächter die Eheleute Christian und Cäcilia Gymnich bekannt, die im Jahr 1700 ein Kapital der Uedesheimer Kirche und 1706 das heute noch erhaltene, älteste Flurkreuz von Uedesheim stifteten.

Die Pächter oder Halfen eines größeren Hofes galten als wohlhabend. Da es für Altwahlscheid leider kein Inventar gibt, habe ich einen mittleren Hof in Nievenheim ausgewählt, der ähnlich ausgestattet gewesen sein dürfte. Hier hat die Pächterin im Jahr 1789 den Besitz taxieren lassen, weil sie verwitwet war und sich wieder verheiraten wollte. Dabei sollten ihre vier Kinder aus erster Ehe ausreichend versorgt werden. Erfasst wurde hierfür das Mobiliar, Geschirr, Wäsche, die Lebensmittelvorräte, Vieh und Arbeitsgerät. Die wichtigsten Dinge ihres Besitzes im Haus waren:

Ein Schrank mit Glastüren, eine Standuhr, ein Kleiderschrank, 22 Stühle (und zwar strohgeflochtene und „bretterne“), ein Barometer, drei kupferne Kaffeetöpfe, ein Milchkännchen, ein Teetopf und weiteres Kupfergeschirr, 50 Zinnteller, zehn Zinnschüsseln, vier Suppenterrinen, 18 Zinnlöffel, je 15 Messer und Gabeln, drei Zinnleuchter, eine Kupferlampe, zwei Spiegel und ein Buttergefäß. Außerdem 20 Kaffeetassen, eine Kaffeekanne, zwei Milchkännchen, eine Zuckerdose und ein Buttergefäß aus Porzellan. Beeindruckend war auch der Besitz an Wäsche: 43 Servietten, 12 feine, 12 grobe Leinentischtücher, 38 Handtücher, 32 Bettlaken, 380 Ellen Leinentuch, Flachs und Garn zur Anfertigung von Leinen und 5 Spinnräder.

Wenn man nun den Wert beziffern will, so wurde das Haus selbst nicht einbezogen, weil es ja dem Grundherrn, also dem Stift, gehörte. Es sind aber einige Wertbestimmungen des Inventars bekannt. So ist der Schrank mit Glastüren mit 8 Reichstalern und die Uhr mit 15 Reichstalern taxiert worden.  Die Erwachsenenbetten hatten einen Wert von 18 bis 45 Reichstalern, ein Kinderbett wurde mit 21 Reichstalern und das Bett in der Mägdekammer mit 5 Reichstalern veranschlagt.

Ohne es beweisen zu können, kann man davon ausgehen, dass die Halfen des Altwahlscheider Hofs im 18. Jahrhundert ähnlich ausgestattet und damit nicht unvermögend waren.

Was wurde nun angebaut von den Pächtern in dieser Gegend? Der Roggen hatte im Rheinland in der 2. Hälfte des 18. Jahrhunderts eine Spitzenstellung. Es wurde auch Weizen angebaut, Hafer dagegen kaum. Weitere Pflanzen waren Buchweizen, Rüben, Erbsen, Bohnen, dicke Bohnen, Kohl, Möhren und Äpfel. Kartoffeln, die ja erst seit dem 17. Jahrhundert in Europa angebaut wurden, spielten noch keine Rolle.

Ein interessanter Aspekt noch an dieser Stelle: jahrhundertelang war das Stift St. Quirin Grundherr bzw. die Kanonissen waren die Grundherrinnen von Altwahlscheid und Uedesheim. Für den Neusser Raum, d. h. auch die anderen Klöster und Stifte, sind kaum Spannungen und Gerichtsverfahren zwischen Grundherren und Pächtern bekannt. In anderen deutschen Landschaften gab es teils heftige Auseinandersetzungen. Die guten Beziehungen zwischen dem Stift und den Pächtern beruhten auf Grundlagen, die Jahrhunderte lang ungestört bestanden und von beiden Seiten akzeptiert wurden. Und die Grundherrinnen waren sich ihrer sozialen Verpflichtung durchaus bewusst. Dieses gute Verhältnis wurde in der Franzosenzeit mit der Säkularisation beendet.

Die Säkularisation der Stifte, Klöster und Konvente — allein im Roer-Departement mehr als 250 Einrichtungen – und der Verkauf des verstaatlichten Kirchenbesitzes brachte eine Besitzumschichtung von 40 % des rheinischen Bodens. Die gesamten mobilen und immobilen Güter der Klöster und aufgehobenen Stifte fielen dem französischen Staat zu, ebenso die zu „Nationalgütern“ erklärten Ländereien.

Ein großer Teil des Domänenguts wurde im August 1803 zugunsten der französischen Staatskasse in Aachen verkauft. Die Veräußerung erfolgte aber erst, nachdem der Papst in einem Konkordat 1802 den Erwerbern ausdrücklich einen ungestörten Besitz garantiert hatte. So nutzten auch in Neuss vor allem bürgerliche Schichten die Gelegenheit, ehemals kirchliche Immobilien und Land zu kaufen. Allerdings erst 1811 erwarb August von Heister Gut Altwahlscheid. Es blieb für mehr als 100 Jahre bis 1912 im Besitz der Familie.

In der Preußischen Zeit ab 1815 wurden die Gemeinden Grimlinghausen und Uedesheim zusammengelegt. Damit gehörte Altwahlscheid wie Neuwahlscheid und Macherscheid zur Bürgermeisterei Grimlinghausen, die zusammen mit der Bürgermeisterei Norf in Personalunion verbunden war und eine „Sammtgemeinde“ bildete. Die Bürgermeisterei war in Norf.

Und so spärlich die Nachrichten bis hierher waren, im 20. Jahrhundert war Gut Altwahlscheid zusammen mit Uedesheim ein wichtiger Baustein für die Entwicklung der Stadt Neuss.

Dazu eine statistische Angabe aus dem Adressbuch 1914: Gut Altwahlscheid verfügte über 171 Hektar Fläche, davon 90 Hektar Acker, 70 Hektar Wiesen und 10 Hektar Weiden. Gutspächter war Aloys Marx. An Vieh wurden 15 Pferde, 50 Kühe und 80 Schweine gehalten. Es lebten 1914 in Uedesheim 914 Personen, Grimlinghausen hatte zu dem Zeitpunkt übrigens 1.567 Einwohner. Heute leben in Uedesheim rund 4.400 Menschen.

Die Stadt Neuss war seit Anfang des 20. Jahrhunderts bestrebt, Grimlinghausen und Uedesheim einzugemeinden. Nachdem die Stadtverordnetenversammlung 1908 den Bürgermeister zu ersten Verhandlungen ermächtigt hatte, bot Franz Gielen eine Bahnverbindung für den Personenverkehr, eine Fortführung der Hafenbahn bis Grimlinghausen sowie eine Verlängerung der Wasserleitung bis Grimlinghausen an, doch die Gemeinden Grimlinghausen und Uedesheim lehnten die Eingemeindung nach Neuss ab. Auch Düsseldorf zeigte Bestrebungen, sein Stadtgebiet zu erweitern und Neuss durch Eingemeindungen im Norden und im Süden in die Zange zu nehmen. 1912 gelang es Düsseldorf, den Altwahlscheider und den Neuwahlscheider Hof von der Familie von Heister zu erwerben. An einem Kauf der Höfe war auch die Stadt Neuss interessiert, aber Düsseldorf überbot Neuss und konnte damit linksrheinisches Gelände dem Stadtbesitz zufügen. Warum hat sich die Stadt Neuss nicht mehr für den Kauf eingesetzt? Ein Grund ist sicher, dass die Stadt Anfang des 20. Jahrhunderts den Ausbau des Hafens betrieb und an dem südlich gelegenen Gelände kein so großes Interesse hatte. Aber, so hat es Dr. Peter Veiser, der Historiker und Treuhänder für Uedesheim dargestellt: „Wenn man die Landflächen von Alt- und Neuwahlscheid im Jahr 1912 betrachtet, so muss man feststellen, dass sie im Kerngebiet von Uedesheim die Hälfte der Flur ausmachen.“ Insofern kann man die Zurückhaltung der Stadt Neuss nicht verstehen. Und diese Haltung hätte sich auch beinahe später gerächt.

Denn die Eingemeindungsaktivitäten, die durch den Ersten Weltkrieg zeitweise unterbrochen wurden, lebten zu Beginn der Weimarer Republik bald wieder auf. Bereits im August 1922 legte die Stadt Neuss dem Regierungspräsidenten und dem preußischen Innenminister eine Denkschrift vor, in der die Eingemeindung von Grimlinghausen, Uedesheim und Holzheim als unabdingbare Notwendigkeit für Neuss geschildert wurde.

Angesichts der angestrebten Gebietserweiterungen von Neuss und Düsseldorf wurde Uedesheim im Vorfeld der kommunalen Neuordnung 1929 erneut zum Streitobjekt zwischen den beiden Städten. Die Stadt Neuss argumentierte mit der Notwendigkeit weiterer industrieller Ausdehnung und dem geplanten Bau einer Werft südlich von Uedesheim. Dem hielt Düsseldorf in seinen Vorschlägen zur kommunalen Neugliederung den Bedarf an Siedlungsraum für die ständig wachsende Düsseldorfer Bevölkerung entgegen. Und mit Gut Altwahlscheid und Gut Neuwahlscheid verfügte die Stadt Düsseldorf dort ja seit 1912 bereits über ausgedehnten Landbesitz. Nach intensiven Verhandlungen gelang es Neuss schließlich, seine Eingemeindungsziele durchzusetzen und damit neue Entwicklungsmöglichkeiten im Neusser Süden zu gewinnen. Neuss erhielt am 1. August 1929 neben weiteren Gebietskorrekturen die Gemeinden Grimlinghausen und Uedesheim zugesprochen.

In den Jahren von 1940 bis 1942 flammte der Streit zwischen Neuss und Düsseldorf wieder auf, als unter Führung von Gauleiter Friedrich Karl Florian Düsseldorf als Gauhauptstadt ausgebaut werden sollte. Dafür strebte Düsseldorf nicht nur eine Hafenbetriebsgemeinschaft mit Neuss an, sondern benötigte angeblich zur „Befriedigung des Siedlungsbedürfnisses“ in Uedesheim Flächen. Aber Düsseldorf drang mit seinen Forderungen nicht durch, 1942 wurde der Vorschlag vom Reichsinnenministerium abgelehnt.

Im Jahr 1968 — und daran werden sich einige von Ihnen vielleicht als Zeitzeugen erinnern — gelang es der Stadt Neuss nach zweijährigen Verhandlungen, in denen es um Wasserrechte ging, den Alt- und den Neu-Wahlscheider Hof von Düsseldorf zu erwerben. Es handelte sich um insgesamt 1.825.671 Quadratmeter. Gezahlt wurden 19,483 Millionen DM. Durch den Kaufvertrag wurde die Trinkwasserversorgung von Neuss und Düsseldorf gesichert.

Kommunalpolitisch hatte Uedesheim mit der Eingemeindung nach Neuss 1929 eine vertraglich geregelte Sonderstellung erhalten: Mittelpunkt des Vertrages war eine besondere Berücksichtigung der Uedesheimer Belange durch Rat und Verwaltung der Stadt Neuss mit der Bildung einer örtlichen Verwaltungsstelle. Bis heute wirksam ist die Bildung einer eigenen Uedesheimer Gemeindekommission. Diese bestand aus dem Oberbürgermeister, zwei Stadtverordneten und sechs Uedesheimer Bürgern, die parallel zur Kommunalwahl gewählt wurden. Die Kommission sollte bestehen bleiben, bis die 1929 geplante bauliche Verschmelzung von Uedesheim mit Neuss vollzogen sein würde. Da dies nicht geschehen war, wurde im Rahmen der Kommunalen Neugliederung 1975 die Uedesheimer Kommission durch den 17 Mitglieder starken Bezirksausschuss Uedesheim ersetzt, der bis heute besteht.

Die Pächter von Gut Altwahlscheid der letzten Jahrzehnte sind ausführlich behandelt in dem bereits erwähnten, 2016 erschienenen Buch „Landwirtschaft in Neuss-Uedesheim Gestern und Heute“. Und heute ist nun das Ehepaar Tolles auf Gut Altwahlscheid und wird sicher im Anschluss an meinen Vortrag noch interessante und aktuelle Informationen geben können.

Zum Abschluss möchte ich aber noch einmal einen nostalgischen Blick auf Uedesheim mit Ihnen werfen. Im Jahr 1790 bereiste Joseph Gregor Lang, ein Gymnasiallehrer und Prediger aus Koblenz, das Rheinland zwischen Siebengebirge und Düsseldorf. Er beschrieb topographisch genau, wie er den Rhein abwärts wanderte, Fähren nutzte und schilderte anschaulich die Landschaft und die Siedlungen.

Ich lese Ihnen einen kurzen Auszug seiner Reisebeschreibung vor:

„Noch schöner aber und wahrhaft romantisch in einer der stillsten Landschaften auf einem etwas erhöhten Ufer liegt links das ärmliche Dörfchen Stürzelberg mit seinen lehmenen Hüttchen, mit bemoosten Strohdächern bedeckt. Die Einsamkeit, von allem Überfluss entfernt und nur mit Wenigem vergnügt, scheint sich hier selbst niedergelassen zu haben, um unbelauscht und fern vom Neide zu leben. Nur ein leichtgebauter Kahn, den ein ebenso mit sich selbst zufriedener Fährmann regiert, durchschneidet den ruhigen Rhein, um zur anderen Seite zu kommen. Nun folgt Ussem oder Uedesheim, ein großes, ansehnliches kölnisches Dorf am linken Ufer, das in einer der fruchtbarsten Gegenden ruht. So möchte ich alle Dörfer gebaut sehen, nichts hängt ineinander, nichts ist zusammengekettet, sondern ein jedes Haus steht einzeln…“

Ja, auch Gut Altwahlscheid steht einzeln und damit möchte ich meine Ausführungen beenden und danke für Ihre Aufmerksamkeit.